Weihnachten steht vor der Tür

 

Gibt es einen Weihnachtsmann?
von
Virginia O’Hanlon


R.R.B. New York
Die achtjährige Virginia O’Hanlon aus New York wollte es ganz genau wissen. Darum schrieb sie an die Tageszeitung „SUN“ einen Brief:


„Ich bin acht Jahre alt. Einige von meinen Freunden sagen, es gibt keinen Weihnachtsmann. Papa sagt, was in der „Sun“ steht, ist immer wahr. Bitte sagen Sie mir: Gibt es einen Weihnachtsmann?
Virginia O’Hanlon

Die Sache war dem Chefredakteur Francis Church so wichtig, daß er selber antwortete – auf der Titelseite der „Sun“:

“Virginia, Deine kleinen Freunde haben nicht recht. Sie glauben nur, was sie sehen; sie glauben, daß es nicht geben kann, was sie mit ihrem kleinen Geist nicht erfassen können. Aller Menschengeist ist klein, ob er nun einem Erwachsenen oder einem Kind gehört. Im Weltall verliert er sich wie ein winziges Insekt.
Solcher Armeisenverstand reicht nicht aus, die ganze Wahrheit zu erfassen und zu begreifen.
Ja Virginia, es gibt einen Weihnachtsmann. Es gibt ihn so gewiß, wie die Liebe und Großherzigkeit und Treue. Weil es all das gibt, kann unser Leben schön und heiter sein.
Wie dunkel wäre die Welt, wenn es keinen Weihnachtsmann gäbe! Es gäbe dann auch keine Virginia, keinen Glauben, keine Poesie – gar nichts, was das Leben erst erträglich machte. Ein Flackerrest an sichtbaren Schönem bliebe übrig. Aber das Licht der Kindheit, das die Welt ausstrahlt, müsste verlöschen.

Es gibt einen Weihnachtsmann, sonst könntest Du den Märchen nicht glauben. Gewiß, Du könntest Deinen Papa bitten, er solle am Heiligen Abend Leute ausschicken, den Weihnachtsmann zu fangen. Und keiner von ihnen bekäme den Weihnachtsmann zu Gesicht – was würde das beweisen? Kein Mensch sieht ihn einfach so.
Das beweist gar nichts.
Die wichtigsten Dinge bleiben meist unsichtbar. Die Elfen zum Beispiel, wenn sie auf Mondwiesen tanzen. Trotzdem gibt es sie.
All die Wunder zu denken – geschweige denn sie zu sehen -, daß vermag nicht der Klügste auf der Welt.

Was Du auch siehst, Du siehst nie alles. Du kannst ein Kaleidoskop aufbrechen und nach den schönen Farbfiguren suchen. Du wirst einige bunte Scherben finden, nichts weiter. Warum? Weil es einen Schleier gibt, der die wahre Welt verhüllt, einen Schleier, den nicht einmal alle Gewalt auf der Welt zerreißen kann. Nur Glaube und Poesie und Liebe können ihn lüften. Dann werden die Schönheit und Herrlichkeit dahinter auf einmal zu erkennen sein. „Ist das denn auch wahr?“ kannst Du fragen. Virginia, nichts auf der ganzen Welt ist wahrer und nichts beständiger.

Der Weihnachtsmann lebt, und ewig wird er leben. Sogar in zehnmal zehntausend Jahren wird er da sein, um Kinder wie Dich und jedes offene Herz mit Freude zu erfüllen.

Frohe Weihnachten, Virginia!!!
Dein Francis P. Church“

P.S.: Der Briefwechsel zwischen Virginia O’ Hanlon und Francis P. Church stammt aus dem Jahr 1897. Er wurde über ein halbes Jahrhundert – bis zur Einstellung der „Sun“ – alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit auf der Titelseite der Zeitung abgedruckt.

 

             

 

Weihnachtserzählungen von Charles Dickens

 

Die Geschichte des armen Verwandten

 

Es war ihm sehr peinlich, daß er vor so vielen geachteten Familienmitgliedern den Vorrang haben und als erster mit den Geschichten beginnen sollte, die sie, in fröhlichem Kreise um den weihnachtlichen Kamin versammelt, sich erzählen wollten. Er wandte bescheiden ein, daß es richtiger wäre, wenn “ John, unser verehrter Gastgeber“ (auf dessen Gesundheit er sich zu trinken gestattete), freundlicherweise den Anfang machen würde. Denn was ihn selbst beträfe, meinte er, so wäre er so wenig daran gewöhnt, der erste zu sein, daß wirklich... Aber da hier alle riefen, daß er beginnen solle, so hörte er schließlich auf, sich die Hände zu reiben, zog seine Beine unter dem Lehnsessel hervor und begann.

            Ich hege keinen Zweifel (sagte der arme Verwandte), daß ich die versammelten Mitglieder unserer Familie durch das Gefängnis, das ich abzulegen im Begriff bin, überraschen werde; besonders aber John, unseren verehrten Gastgeber, dem wir die freigebige Bewirtung des heutigen Tages verdanken. Falls ihr mir aber nun die Ehre erweist, von etwas überrascht zu sein, was eine Person von geringer Bedeutung in der Familie wie ich vorbringt, so will ich nur feststellen, daß ich sehr gewissenhaft berichten werde.

            Ich bin nicht der, wofür ich gehalten werde. Ich bin ein ganz anderer. Vielleicht wäre es gut, bevor ich fortfahre, einen Blick auf das zu werfen, wofür ich gehalten werde.

            Man ist der Ansicht, daß ich niemandes Feind bin, nur mein eigner. Sollte ich mich darin täuschen, was sehr wahrscheinlich ist, so werden mich die versammelten Mitglieder unserer Familie zurechtweisen. (Hier sah sich der arme Verwandte mit mildem Blick im Kreise um, ob ihm jemand widerspräche.) Man glaubt, daß ich niemals bei irgend etwas besonderen Erfolg hatte. Daß ich im Geschäftlichen versage, weil ich unkaufmännisch und leichgläubig war – weil ich den selbstsüchtigen Schlichen meines Partners nicht gewachsen war. Daß ich in der Liebe Unglück hatte, weil ich lächerlich vertrauensselig war – weil ich es für unmöglich hielt, daß Christina mich hintergehen könnte. Daß ich in meinen Erwartungen von meinem Onkel Chill enttäusch wurde, weil ich in Alltagsdingen nicht so hart war, wie er es gewünscht hätte. Daß ich das ganze Leben hindurch überhaupt stets betrogen und enttäuscht worden bin. Daß ich jetzt ein Junggeselle zwischen neunundfünfzig und sechzig bin, der ein bescheidenes Einkommen in Form einer vierteljährigen Rente besitzt, über die, wich ich bemerke, John, unser verehrter Gastgeber, keine weitere Anspielung von mir hören möchte.

            Das Leben, das ich jetzt führe, stellt sich nach der allgemeinen Annahme etwa folgendermaßen dar:

            Ich bewohne in der Clapham Road ein sauberes Hinterzimmer in einem sehr anständigen Haus. Man erwartet von mir, daß ich am Tag nicht zu Hause bin, ausgenommen in Krankheitsfällen, und ich verlasse für gewöhnlich um neun Uhr das Haus, unter dem Vorwand ins Büro zu gehen. Ich frühstücke – eine Buttersemmel und eine Tasse Kaffee – in dem alten Kaffeehaus, in der Nähe der Westminsterbrücke, und dann gehe ich, ohne recht zu wissen wozu, in die City und sitze in Garraways Kaffeehaus und auf der Börse und gehe umher und sprechein ein paar Kontoren vor, wo einige meiner Verwandten oder Bekannten so freundlich sind, mich zu dulden, und wo ich am Kamin stehe, wenn das Wetter gerade kalt ist. So bringe ich den Tag hinter mich, bis es fünf Uhr ist, und dann diniere ich: im allgemeinen etwa für einen Schilling und drei Pence. Da ich noch etwas Geld für meine Abendunterhaltung übrig habe, gucke ich auf dem Heimweg in das alte Kaffeehaus hinein und nehme meine Tasse Tee und vielleicht meine Röstschnitte. So gehe ich denn, so regelmäßig wie der große Uhrzeiger seinen Weg nach der Morgenstunde zurücklegt, wieder nach Clapham Road zurück und lege mich zu Hause angekommen sofort zu Bett. Denn Heizen ist kostspielig, und die Familie, bei der ich wohne, will wegen der Mühe und des Schmutzes, die damit verbunden sind, nichts davon wissen.

            Manchmal ist einer meiner Verwandten oder Bekannten so liebenswürdig, mich zum Dinner einzuladen. Das sind Festtage für mich und ich pflege in der Regel anschließend einen Spaziergang im Park zu unternehmen. Ich bin ein einsamer Mensch und gehe selten aus. Nicht etwa, daß man mich meidet, weil ich schäbig aussehe; denn ich sehe gar nicht schäbig aus, da ich immer einen sehr guten schwarzen Anzug trage. Aber ich habe die Gewohnheit angenommen, leise zu sprechen und mich ziemlich schweigsam zu verhalten; meine Laune ist nicht rosig, und so verstehe ich vollkommen, das ich kein willkommener Gesellschafter bin.

            Die einzige Ausnahme von dieser Regel ist das Kind meines Vetters, der kleine Frank. Ich habe eine besondere Zuneigung zu dem Knaben, und er hängt sehr an mir. Er ist von Natur ein mißtrauischer Junge, und in einer Menschenmenge ist er bald überrannt, wie ich mich ausdrücken darf, und vergessen. Doch vertragen wir beide uns ganz vorzüglich, und es kommt mir so vor, als ob der arme Junge eines Tages meine besondere Stellung in der Familie erben würde. Wir verstehen uns ohne viel Worte. Als er noch ganz klein war, pflegte ich ihn an die Schaufenster der Spielzeugläden zu führen und ihm schnell die ausgestellten Spielsachen zu zeigen. Dabei fand er überraschend schnell heraus, daß ich ihm eine Menge Geschenke gemacht hätte, wenn ich dazu in der Lage gewesen wäre.

            Der kleine Frank und ich gehen nach dem Monument spazieren und sehen es uns von außen an – er liebt das Monument sehr -, und wir besuchen die Brücke und alle Sehenswürdigkeiten, die keinen Eintritt kosten. Zweimal haben wir an meinem Geburtstag gespickten Rinderbraten verzehrt und sind dann zum halben Preis ins Theater gegangen, wo wir mit größtem Interesse zugehört haben. Einst ging ich mit ihm in der Lombard Street, die wir oft aufsuchten, weil ihm meine Erzählung, daß es dort große Reichtümer gibt, diese Straße sehr lieb gemacht hat, als ein Gentleman im Vorübergehen zu mir sagte:“ Sir, Ihr kleiner Sohn hat seinen Handschuh fallen lassen.“

            Ich versichere euch, wenn ihr mein Verweilen bei so einem trivialen Umstand entschuldigen wollt, daß diese zufällige Erwähnung des Kindes als mein eigen an meinem Herz griff und mir närrische Tränen in die Augen trieb.

            Wenn der kleine Frank aufs Land in die Schule geschickt wird, werde ich in großes Verlegenheit sein, was ich mit mir anfangen soll. Aber ich habe die Absicht, einmal im Monat zu Fuß dorthin zu gehen und ihn an einem freien Nachmittag zu besuchen. Man sagt mir, er wird dann auf der Heide beim Spielen sein; und wenn meine Besuche unwillkommen sein sollten, weil sie den Knaben aufregen, so kann ich ihn aus der Ferne sehen, ohne daß er mich bemerkt und dann wieder zurückwandern. Seine Mutter stammt aus einer hochvornehmen Familie, und ich weiß wohl, daß es ihr nicht sehr besonders angenehm ist, wenn wir viel zusammen sind. Freilich bin ich wenig dazu geeignet, auf seinen schüchternen Charakter günstig einzuwirken; aber ich glaube, er würde mich über den Anblick hinaus vermissen, wenn wir gänzlich getrennt würden.

            Wenn ich in der Clapham Road strebe, so werde ich nicht viel mehr auf der Welt hinterlassen, als ich aus ihr hinwegnehmen werde. Aber ich besitze das Miniaturbild eines Knaben mit fröhlichem Gesicht und lockigem Haar, der am Hals einen offenen Hemdkragen trägt. Meine Mutter hat es für mich anfertigen lassen, aber ich kann nicht glauben, daß es jemals ähnlich war. Dies wird beim Verkauf nichts einbringen, und ich werde darum bitten, daß es Frank gegeben werden möge. Ich habe meinem lieben Jungen einen Brief dazu geschrieben und ihm darin gesagt, daß es mir sehr leid täte, von ihm zu scheiden; aber andererseits wüsste ich auch keinen rechten Grund, warum ich hierbleiben sollte. Ich habe ihm in kurzen Worten den Rat gegeben – den Besten, den ich ihm geben konnte -, sich ein warnendes Beispiel daran zu nehmen, welche Flogen es hätte, wenn man niemandes Feind wäre als sein eigener. Auch habe ich mich bemüht, ihn zu trösten wegen dessen, was er, wie ich fürchte, als einen Verlust ansehen wird. Ich habe ihm vorgehalten, daß ich für jeden außer ihm nur ein überflüssiger Mensch war; daß es mir irgendwie mißlungen sei, einen Platz in dieser großen Gesellschaft zu finden, und daß es deshalb besser sei, wenn ich sie verließe.

            Dies (sagte der arme Verwandte, indem er sich räusperte und die Stimme ein wenig erhob) ist die allgemeine Ansicht über mich. Nun ist es aber ein bemerkenswerter Umstand – und das ist Zweck und Ziel meiner Geschichte -, daß das alles verkehrt ist. Das ist nicht mein Leben und das sind nicht meine Gewohnheiten. Ich wohne nicht einmal in der Clapham Road. Ich bin verhältnismäßig sehr wenig dort. Ich wohne meistens in einem – ich schäme mich fast, das Wort auszusprechen, es klingt so anspruchsvoll – in einem Schloß. Ich will damit nicht sagen, daß es ein alter freiherrlicher Wohnsitz ist, aber es ist doch ein Gebäude, das jedem stets unter der Bezeichnung Schloß geläufig ist. Darin bewahre ich die Einzelheiten meiner Geschichte auf.

            Sie verhalten sich folgendermaßen:

            Es war zur Zeit, als ich noch im Hause meines Onkels Chill wohnte, von dem ich ein beträchtliches Erbe zu erwarten hatte. Ich war ein junger Mensch von nicht mehr als fünfundzwanzig Jahren und hatte gerade John Spatter, der mein Angestellter gewesen war, als Partner aufgenommen. Damals wagte ich es, mich Christina zu erklären. Ich liebte Christina, die von ungewöhnlicher Schönheit und in jeder Hinsicht reizend war, seit langem. Zwar mißtraute ich ihrer verwitweten Mutter, da ich fürchtete, daß sie hinterlistig und geldgierig wäre. Jedoch versuchte ich Christina zuliebe, so gut wie möglich von ihr zu denken. Ich hatte niemals jemanden anders als Christina geliebt, und sie war von unserer Kindheit an die ganze Welt, ja viel mehr als die ganze Welt, für mich gewesen!

            Christina nahm mit Zustimmung ihrer Mutter meine Bewerbung an, und ich war der glücklichste Mensch auf Erden. Ich führte im Hause meines Onkels Chill ein dürftiges, langweiliges Leben, und meine Dachkammer war so öde und kahl und kalt wie ein oberes Gefängnisgelaß in einer finsteren Festung im Norden. Aber außer Christinas Liebe brauchte ich nichts weiter auf Erden. Ich würde mit keinem Menschen getauscht haben.

            Zum Glück war mein Onkel Chill ganz und gar von dem Laster der Habsucht beherrscht. Obwohl reich, war er gierig nach jedem Gewinn, knauserte und sparte und führte ein elendes Dasein. Da Christina ohne Vermögen war, so scheute ich mich eine Zeitlang ein wenig, ihm von unserer Verlobung Mittelung zu machen. Schließlich aber schrieb ich ihm einen Brief und gestand ihm alles wahrheitsgemäß. Diesen legte ich eines Abends vor dem Zubettgehen in seine Hand.

            Als ich am nächsten Morgen herunterkam, war mir das Herz schwer. Ich schauerte in der kalten Dezemberluft, die in dem ungeheizten Haus meines Onkels kälter war als auf der Straße. Denn dort schien doch bisweilen die Wintersonne, und auf jeden Fall wurde sie von den fröhlichen Gesichtern und Stimmen der Vorübergehenden belebt. So schritt ich auf das lange niedrige Frühstückszimmer zu, in dem mein Onkel saß. Es war ein großes Zimmer mit einem kleinen Feuer, und auf dem breiten Erkerfenster hatte der nächtliche Regen seine Spuren hinterlassen, gleich als wären es die Tränen obdachloser Menschen. Es ging auf einen wüsten Hof mit einem rissigen Steinpflaster und einem verrosteten Eisengeländer, das zur Hälfte aus dem Boden herausgerissen war. Ein häßlicher Schuppen stand darauf, der einst in den Zeiten des großen Arztes, der das Haus an meinen Onkel verpfändet hatte, als Seziersaal gedient hatte.

            Wir standen stets so früh auf, daß wir zu dieser Jahreszeit bei Kerzenschein frühstückten. Als ich ins Zimmer trat, hatte sich mein Onkel in der Kälte so in seinem Lehnstuhl hinter der einen, trübe brennende Kerze zusammengekauert, daß ihn erst gewahr wurde, als ich dicht vor dem Tisch stand.

            Als ich ihm die Hand entgegenstreckte, ergriff er seinen Stock, den er wegen seiner Gebrechlichkeit benütze, schlug nach mir und sagte:

            “ Du Narr!!!“

            “ Onkel“, erwiderte ich,“ ich hätte nicht erwartet, daß Sie so böse reagieren würden.“

            Ich hatte es auch wirklich nicht erwartet, obwohl er ein harter und zorniger alter Mann war.

            “ Du hast es nicht erwartet?“ fragte er. “ Wann hast du jemals etwas erwartet? Wann hast du je gerechnet oder an die Zukunft gedacht, du niedriger Hund?“

            “ Das sind harte Worte, Onkel!“

            “ Harte Worte? Das sind bloße Federn, wenn man einen Idioten wie dich damit schlagen will“, erwiderte er. “ Hier! Betsy Snap! Seht ihn an!“

            Betsy Snap, ein häßliches, welkes, gelbgesichtiges altes Weib, war unser einziger Dienstbote. Zu dieser Morgenstunde war sie stets damit beschäftigt, meinem Onkel die Beine zu reiben. Als mein Onkel sie aufforderte, mich anzusehen, legte er seine magere Klaue auf den Scheitel der neben ihm Knienden und wandte ihr Gesicht mir zu. In meiner Angst schoß mir plötzlich der Gedanke durch den Sinn, daß sie beide ein Bild aus dem Seziersaal boten, wie er zur Zeit des Arztes ausgesehen haben mußte.

            “ Seht das weichliche Muttersöhnchen an!“ sagte mein Onkel. “ Betrachtet diese Kindchen! Das ist der Gentleman, der wie die Leute sagen, niemandes Feind ist als sein eigener. Das ist der Gentleman, der nicht nein sagen kann. Das ist der Gentleman, dem sein Geschäft so riesige Verdienste abwirft, daß er notwendig jüngst einen Partner aufnehmen mußte. Das ist der Gentleman, der eine Frau ohne einen roten Heller heiraten will und der in die Hände von Isbels gerät, die auf meinen Tod spekulieren!“

            Jetzt wusste ich, wie groß die Wut meines Onkels war. Denn wenn er nicht fast rasend gewesen wäre, so hätte ich nichts veranlassen können, diese alles beendende Wort in den Mund zu nehmen. Sonst durfte es unter keinen Umständen vor ihm ausgesprochen oder angedeutet werden, so widerwärtig war es ihm.

            “ Auf meinen Tod“, wiederholte er, gleich als trotze er mir, indem er seinem eigenen Abscheu vor dem Wort Trotz bot. “Auf meinen Tod – Tod – Tod! Aber ich werde dieser Spekulation ein Ende bereiten. Iß deine letzte Mahlzeit unter diesem Dach, du Jämmerling, und mögest du daran ersticken!“

            Ihr könnt euch denken, daß ich nicht viel Appetit auf das Frühstück hatte, zu dem ich in diesen Ausdrücken eingeladen wurde. Jedoch nahm ich meinen gewohnten Platz ein. Ich sah, daß mein Onkel nicht mehr von mir wissen wollte; aber im Besitz von Christinas Herzen konnte ich das mit Gleichmut ertragen.

            Er leerte seine Schale Brot und Milch wie gewöhnlich, nur daß er sie auf die Knie genommen und seinen Stuhl von dem Tisch, an dem ich saß, abgerückt hatte. Als er fertig war, blies er beachtsam die Kerze aus, und der kalte, elende, bleifarbene Tag blickte ins Zimmer herein.

            “ Nun, Mr. Michael“, sagte er, “ bevor wir uns trennen, möchte ich in deiner Gegenwart ein Wort mit diesen Damen sprechen.“

            “ Wie Sie wünschen, Sir“, erwiderte ich. “ Aber Sie täuschen sich und tun uns bitter unrecht, wenn Sie glauben, daß irgendein anderes Gefühl als reine, selbstlose, treue Liebe bei unserer Übereinkunft eine Rolle gespielt hat.“

Darauf erwiderte er bloß: “ Du lügst!“ – kein Wort weiter.

            Wir gingen durch halbgetauten Schnee und habgefrorenen Regen nach dem Hause, wo Christina und ihre Mutter wohnten. Mein Onkel war gut mit ihnen bekannt. Sie saßen gerade beim Frühstück und waren überrascht, uns zu dieser Stunde zu sehen.

            “ Ihr Diener, Ma’am“, sagte mein Onkel zu der Mutter. “ Sie erraten wohl den Zweck meines Besuches, Ma’am. Wie ich höre, schließt dieses Haus eine Welt reiner, selbstloser, treuer Liebe ein. Ich bin glücklich, das zu bringen, was zur Vervollständigung dieser Welt einzig noch nötig ist. Ich bringe Ihnen Ihren Schwiegersohn, Ma’am, und Ihnen, Miß, Ihren Gatten. Der Gentleman ist ein vollkommen fremder Herr für mich, aber ich wünsche ihm Glück zu seinem weisen Handel.“

            Er zeigte mir die Zähne, als er das Zimmer verließ, und ich habe ihn nie wiedergesehen.

 

Es ist eine ganz falsche Annahme (fuhr der arme Verwandte fort), daß meine teuer Christina sich von ihrer Mutter überreden ließ und einen reichen Mann heiratete; daß sie jetzt oft an mir vorbeifährt und ihre Wagenräder mich von oben bis unten mit Kot bespritzen. Nein, nein. Sie heiratete mich.

            Wir heirateten sogar früher, als wir beabsichtigt hatten, und das kam so.

Ich hatte mir eine bescheidene Wohnung gemietet und sparte und entwarf Zukunftspläne, als sie eines Tages sehr ernst zu mir sagte:

            “ Mein lieber Michael, ich habe dir mein Herz geschenkt. Ich habe deine Liebe erwidert, und ich habe dir mein Wort gegeben, dein Weib zu werden. Ich gehöre dir ebenso in jedem Wechsel zum Guten oder Schlimmen, als wenn wir an dem Tage, als diese Worte zwischen uns gesprochen wurden, geheiratet hätten. Ich kenne dich gut und weiß, daß dein ganzes Leben verdunkelt würde, wenn wir uns trennten. Dein ganzes Wesen, das selbst jetzt für den Kampf mit dem Leben kräftiger gerüstet sein sollte, würde dann nur noch ein Schatten seiner selbst sein!“

            “ Gott helfe mir, Christina!“ sagte ich. “Du sprichst die Wahrheit.“

            “ Michael!“ sagte sie, mit ihrer ganz mädchenhaften Hingabe ihre Hand in die meine legend, “ wir wollen nicht länger getrennt leben. Ich brauche nur zu sagen, daß ich mit dem, was du mir bieten kannst, zufrieden bin, und ich weiß, daß du glücklich sein wirst. So sage ich es denn von ganzem Herzen. Mühe dich nicht mehr allein; wir wollen es gemeinsam schaffen. Mein lieber Michael, es wäre nicht recht von mir, dir das zu verheimlichen, was du nicht ahnst, was aber mein ganzes Leben verbittert. Meine Mutter bedenkt nicht, daß du alles, was du verloren hast, nur um meinetwillen einbüßtest, nur weil ich dir Treue geschworen hatte. Sie setzt ihr Herz auf Reichtum und will mich zu meinem tiefsten Kummer zu einer anderen Ehe drängen. Ich kann nicht ertragen, denn es ertragen hieße treuelos zu gegen dich sein. Ich will lieber deine Sorgen teilen als ihnen nur zuzusehen. Ich wünsche mir kein besseres Heim, als du mir geben kannst. Ich weiß, daß du mit erhöhtem Mut streben und arbeiten wirst, wenn ich ganz dein bin, und so mag es sein, sobald du willst!“

            Ich war unendlich glücklich an jenem Tag, und eine neue Welt eröffnete sich mir. Wir heirateten ganz kurze Zeit darauf, und ich führte mein Weib in mein glückliches Heim. Damals bezogen wir zuerst das Haus, von dem ich gesprochen habe; das Schloß, das wir seitdem stets zusammen bewohnt haben, stammt aus dieser Zeit. All unsere Kinder sind darin geboren worden. Unser erstes Kind, das jetzt verheiratet ist, war ein Mädchen, das wir Christina nannten. Ihr Sohn ist dem kleinen Frank so ähnlich, daß ich sie kaum auseinanderhalten kann.

 

Auch die herrschende Meinung über die Handlungsweise meines Partners, mir gegenüber ist vollkommen irrig. Er begann, mich nicht von oben herab zu behandeln, wie einen armen Schwachkopf, als das unheilvolle Zerwürfnis zwischen mir und meinem Onkel eintrat. Auch bemächtigte er sich nicht allmählich unseres Geschäfts und drängte mich hinaus. Im Gegenteil, er verhielt sich wie ein vollendeter Ehrenmann.

            Die Dinge zwischen uns spielten sich folgendermaßen ab: An dem Tage der Trennung von meinem Onkel, und sogar bevor noch meine Koffer in unserem Kontor anlangten ( er hatte sie mir nachgeschickt, ohne den Wagen zu bezahlen), ging ich in unser Geschäftslokal auf unserem kleinen Kai am Fluße. Dort teilte ich John Spatter den Vorfall mit. John gab nicht zur Antwort, daß reiche alte Verwandte greifbare Tatsachen, Liebe und schöne Gefühle aber Mondschein und Phantasterei seien. Er sprach folgendermaßen zu mir:

            “ Michael“, sagte John, “ wir sind zusammen zur Schule gegangen, und ich brachte es in der Regel fertig, besser voranzukommen als du und mir größeres Ansehen zu verschaffen.“

            “ Das tatest du, John“, erwiderte ich.

            “ Obgleich“, sagte John, “ ich deine Bücher borgte und sie verlor; dein Taschengeld borgte und es verlor; dir meine schadhaften Messer zu einem höheren Preis verkaufte, als der war, den ich für sie gegeben hatte; und dich die von mir zerbrochenen Fenster auf deine Kappe nehmen ließ.“

            “Alles nicht der Rede wert, mein lieber John Spatter“, sagte ich; “aber zweifellos wahr.“

            “ Als du zuerst dieses Geschäft anfingst, das sich so verheißungsvoll anlässt“, fuhr John fort, “ kam ich, eine Beschäftigung suchend und bereit, fast jede anzunehmen, zu dir, und du machtest mich zu deinem Angestellten.“

            “Ebensowenig der Rede wert, mein lieber John Spatter“, sagte ich; “aber ebenso wahr.“

            “ Und da du fandest, daß ich geschäftstüchtig war, so wolltest du mich nicht in dieser Stellung belassen, sondern hieltest es für ein Gebot der Gerechtigkeit, mich bald zu deinem Partner zu machen.“

            “ Noch weniger der Rede wert als die andern kleinen Umstände, an die du erinnertest, John Spatter“, sagte ich; “ denn ich kannte und kenne deine Verdienste und meine Mängel.“

            “ Nun mein lieber Freund“, sagte John, meinen Arm durch den seinen ziehend, wie er es in der Schule zu tun pflegte – draußen vor den Fenstern unseres Kontors, die wie Heckluken eines Schiffes geformt waren, schwammen zwei Fahrzeuge mit der Flut leicht den Fluß hinab, so wie John und ich in diesem Augenblick gemeinsam und voll gegenseitigen Vertrauens auf unsere Lebensreise hätten ausfahren können -, “unter diesen freundlichen Umständen soll in jeder Beziehung Klarheit zwischen uns herrschen. Du bist zu gutmütig, Michael. Du bist niemandes Feind als dein eigener. Wenn ich unter unserer Kundschaft diesen schädlichen Ruf über dich mit einem Achselzucken und einem Kopfschütteln und einem Seufzer verbreitete und wenn ich ferner dein Vertrauen missbrauche...“

            “Aber du wirst es niemals mißbrauchen, John“, bemerkte ich.

            “Niemals!“ sagte er. “Aber ich setze den Fall. Ich sage, wenn ich ferner dein Vertrauen missbrauche, indem ich die eine unserer gemeinsamen Geschäftsangelegenheiten im Dunkeln ließe und eine andere im Licht und noch eine andere im Zwielicht und so fort, so könnte ich Tag für Tag meine starke Stellung verstärken und deine Schwäche vergrößern, bis ich mich schließlich auf dem Weg nach dem Glück befände, während du auf irgendeiner kahlen Wiese hoffnungsloser Entfernung zurückgeblieben wärst.“

            “Ganz richtig“, sagte ich.

            “Um dies oder die leiseste Möglichkeit dazu zu verhindern, Michael“, sagte John Spatter, “müssen wir vollkommen offen gegeneinander sein. Nichts darf verheimlicht werden, und wir dürfen beide nur gemeinsame Interessen haben!“

            “Mein lieber John Spatter“, versicherte ich ihm, “das ist mir aus dem Herzen gesprochen.“

            “Und wenn du zu gutmütig bist“, fuhr John fort, während sein Gesicht vor Freude erglühte, “dann mußt du mir erlauben, dafür zu sorgen, daß dieser kleine Fehler von niemandem ausgenutzt wird. Du darfst nicht erwarten, daß ich dich darin bestärken werde...“

            “Mein lieber John Spatter“, unterbrach ich ihn, “ich erwarte gar nicht, daß du mich darin bestärkst. Ich wünsche im Gegenteil, daß du es mir abgewöhnst.“

            “Und ich mir ebenfalls“, sagte John Spatter.

            Worauf wir uns herzlichst die Hände schüttelten.

            Ich nahm John mit nach Hause in mein Schloß, und wir verbrachten einen sehr schönen Tag. Unsere Partnerschaft gedieh. Mein Freund und Partner ergänzte meine Mängel, wie ich es vorausgesehen hatte. Er sorgte für das Geschäft und für mich und vergalt dadurch reichlich das wenige, das ich in etwa getan hatte, um ihm im Leben fortzuhelfen.

            Ich bin nicht sehr reich (sagte der armer Verwandte, sich bedächtig die Hände reibend und ins Feuer blickend), denn ich habe nie Wert darauf gelegt, es zu sein. Aber ich habe genug, um ein mäßiges, sorgenfreies Leben führen zu können. Mein Schloß ist kein prachtvoller Ort, aber es ist sehr behaglich. Wärme und Fröhlichkeit herrschen darin, und es ist das Bild eines glücklichen Heimes.

            Unser ältestes Mädchen, das seiner Mutter sehr ähnlich ist, heiratete John Spatters ältesten Sohn. Und auch noch andere Band knüpfen unsere beiden Familien eng aneinander. Schön sind die Abende, wenn wir alle beisammen sind – was häufig der Fall ist – und John und ich von alten Zeiten reden und von der festen Einigkeit, die stets zwischen uns geherrscht hat.

            In meinem Schloß ist es niemals einsam. Einige unserer Kinder oder Enkel sind immer zugegen, und die jungen Stimmen meiner Nachkommen tönen mir köstlich – o wie köstlich! – ins Ohr. Mein teures und mir ganz ergebenes Weib, immer treu, immer liebevoll, immer hilfreich und trostspendend, ist der unschätzbare Segen meines Hauses, und alle andern Segnungen, mit denen es beglückt ist, stammen von ihr. Wir sind eine ziemlich musikalische Familie, und wenn Christina gelegentlich sieht, daß ich ein wenig müde oder verstimmt bin, dann setzt sie sich ans Klavier und singt ein sanftes Liedchen, das sie in der ersten Zeit unserer Verlobung zu singen pflegte. Ich bin ein so schwacher Mensch, daß ich es von niemandem sonst hören kann. Sie spielten es einstmals, als ich mit dem kleinen Frank im Theater war, und das Kind sagte verwundert:

            “Vetter Michael, wessen heiße Tränen sind da auf meine Hand gefallen?“

            Das ist mein Schloß und das sind die wirklichen Einzelheiten meines Lebens, die darin aufbewahrt sind. Ich nehme oft den kleinen Frank dorthin mit. Meine Enkelkinder empfangen ihn mit offenen Armen, und sie spielen zusammen. Zu dieser Zeit des Jahres – um Weihnachten und Neujahr – bin ich selten außerhalb meines Schlosses. Denn die Gedanken, die die Zeit mit sich bringen, scheinen mich dort festzuhalten und die Gebote der Zeit scheinen mich zu lehren, daß es gut ist, dort zu weilen.

 

“Und das Schloß ist...“, bemerkte eine ernste, freundliche Stimme aus der Gesellschaft.

            “Ja. Mein Schloß“, sagte der arme Verwandte, die Augen noch immer auf das Feuer gerichtet, mit einem Kopfschütteln, “in der Luft. John, unser verehrter Gastgeber, hat seine Lage genau erraten. Mein Schloß ist in der Luft! Ich bin zu Ende. Will jemand so freundlich sein und weiter erzählen?“

 

 

 

                                 

 

 

 

Nur noch einmal

Von

Ulla Fröhling

 

Zu Ihrem 80. Geburtstag wünschte sich Margarethe einen nackten Mann. Keinen bestimmten. Irgendeinen. Die Beschaffung überließ sie ganz ihrer Familie und stellte nur zwei Bedingungen: Er sollte gesund sein und nicht älter als 25.

        Am ersten Weihnachtstag traf sich die Familie traditionsgemäß bei Margarete. Alle waren sehr stolz auf sie. Wer hatte schon eine so weitgereiste Großmutter, die vier osteuropäische Sprachen spricht, mit Brieffreunden in Russland, Polen und Ungarn korrespondiert, hervorragend über das politische Tagesgeschehen informiert ist, mit 79 Jahren ihren gesamten Haushalt allein organisiert und nicht zuletzt eine großartige Weihnachtsganz brät?

        Würdevoll thronte Margarete an der Stirnseite der festlich gedeckten Tafel und überragte alle. Margarethe liebte es, alle zu überragen. Da ihre Familie nicht eben kleinwüchsig war, mußte sie sich – trotz ihrer stattlichen 1,80 Meter – inzwischen ein Kissen unterlegen, um diesen Effekt zu erzielen. Alle wussten das, und alle gönnten es ihr.

        Die Ganz war gegessen, die Geschenke ausgetauscht und die Kerzen am drei Meter hohen Weihnachtsbaum fast heruntergebrannt. Alle saßen zufrieden beieinander. Das heiße Wasser im Samowar kochte brodelnd, als Margarethe sich noch ein wenig gerader machte und sagte: “Damit ihr es jetzt schon wisst: Zum 80. Geburtstag wünsche ich mir einen nackten Mann.“

        “ Aber Mama!“ riefen die Töchter Alma und Ata. Alma und Ata waren eineiige Zwillinge und riefen auch noch mit 56 Jahren gerne gleichzeitig etwas aus. “ Mutter scherzt“, meinte Sebastian, Atas Mann, beruhigend. Sebastian hatte häufig das Bedürfnis, etwas Beruhigendes zu sagen. Aber wie immer beruhigte es nicht einmal ihn selbst. “Ich glaub’, mein Schwein pfeift“, kicherte Jutta, Atas 23 jährige Tochter. Lucy, die 15 jährige Tochter von Alma, bewertete den Geburtstagswunsch mit einem anerkennenden “cool“. Lucy hatte seit kurzem ein geheimes Verhältnis mit ihrem Geschichtslehrer, einem Mitdreißiger in vorgezogener Midlifecrisis, und bemühte sich um eine philosophische Haltung. “Nun laß Mama doch mal ausreden“, sagte schließlich Ata, die als Kriminalistikprofessorin und zwölf Minuten älterer Zwilling gern als die Vernünftigere galt.

        Margarethe erklärte, sie wolle nur ihrer Erinnerungen ein wenig auffrischen. Es sei so lange her mit Papa. Und die Spätprogramme der Privatsender hätte Zweifel in ihr aufkommen lassen, ob ihre Erinnerung sie vielleicht trüge. Sie wolle diese Zweifel nicht mit ins Grab nehmen. “Versteht mich nicht falsch“, fügte sie dann noch hinzu. “Ich habe nicht das Gefühl, etwas versäumt zu haben, aber vielleicht, daß ich nicht alles weiß.“

        Margarethe hatte ihren Mann im Zweiten Weltkrieg verloren. Ihre Töchter konnten sich dunkel an den preußisch wirkenden Offizier erinnern, dessen Foto stets auf Margarethes Schreibtisch stand. Man sprach kaum über ihn, da alle wussten, wie schmerzlich der Verlust für Margarethe gewesen war. “Dann genügen doch Bilder“, sagte Almas Mann Julius, der bisher geschwiegen hatte, sich jetzt aber auf seine umfangreiche Privatsammlung besann. “Ich bringe dir welche.“ In seinem Eifer vergaß er aber, daß Margarethe nackte Männer und keine nackten Frauen sehen wollte. Nein, sagte Margarethe bestimmt, lebend soll er sein, und sie wolle ihn auch anfassen. “Cool“, meinte Lucy, deren philosophisches Vokabular noch in den Anfängen steckte.

        Was sich darüber hinaus ergeben würde, hinge selbstverständlich von gegenseitiger Sympathie ab, fügte Margarethe an, um ihre Familie zu beruhigen. Die Bemerkung verfehlte allerdings diesen Zweck.

        In den kommenden Wochen tagte der Familienrat in wechselnden Konstellationen. Grundsätzlich war man schnell bereit, Margarethes Wunsch zu erfüllen, wenn es nur irgendwie ginge. “Was kann sie schon groß mit ihm anfangen“, meinte der 52 jährige Julius, über dessen Potenzprobleme alle – außer Julius – Bescheid wussten. “Außerdem hat Mama schließlich Geschmack“, meinte Alma und dachte an Margarethes Rokokomöbel, die sie eines Tages zu erben hoffte.

        Die Suche war erregend, blieb aber lange Zeit erfolglos.

Julius las die entsprechenden Anzeigen regionaler Zeitungen, er bestellte Fachblätter und verweilte in Videotheken. Allen war Klar, daß keiner der von Julius hingebungsvoll gesichteten Pornostars in Frage käme, aber sie wollten ihm das Vergnügen nicht verderben. Ata betrachtete ihre Studenten mit anderen Augen, Alma bestellte sich eine Heerschar Handwerker ins Haus, Jutta lud Dutzende von Kommilitonen zum Tee, und Lucy ging mit dem 16 jährigen Sohn ihres Geschichtslehrers ins Bett.

        Eines Tages brachte Sebastian einen 24 jährigen Schreiner mit, der auf dem zweiten Bildungsweg Abitur gemacht hatte und jetzt Bauwesen studierte. Er habe ihn, gab er an, von der studentischen Arbeitsvermittlung, Hubert war mittelgroß, sah wirklich gut aus mit seinen dunklen Augen, den schwarzen Locken und einem ausgesprochen hübschen Hintern. Dieser war Sebastian zuerst aufgefallen, als er seinem Hobby nachging, das der Familie bislang verborgen geblieben war: Sebastian besuchte bestimmte Ecken nächtlicher Parks und manche Herrentoiletten, auch wenn seine Nieren es nicht erforderlich machten. Er tat das nicht häufig, nur manchmal, wenn Ata, seine Frau, auswärtige Vorträge hielt über Kriminalität in den Randgruppen der Gesellschaft – ihr Spezialgebiet.

        “Der könnte einer für Mutter sein“, dachte Sebastian sofort, als Hubert Sebastians handgreifliches Interesse mit verlegenem Erröten beantwortete. Beim Tee fanden ihn alle nett. Er konnte sich benehmen, war belesen und, als er seine Schüchternheit erst einmal überwunden hatte, erwies er sich sogar als recht amüsant. Vorerst sagte man ihm nur, es ginge um die Großmutter und ihrem 80. Geburtstag. Man hatte sich geeinigt, ihm dreitauschend Mark zu bieten. Lucy fand, da müsste ein Vorab - Test im Preis mit drin sein, was aber von den anderen einstimmig abgelehnt wurde.

        Margarethes Geburtstag nachte. Hubert hatte inzwischen beide Aids – Tests und Atas Suche nach eventuellen Vorstrafen >>negativ<< durchlaufen. Er kam aus einer ordentlichen Handwerkerfamilie mit ausgeprägtem sozialem Engagement. Seine Aufgabe empfand er inzwischen als tätige Altenpflege. Juttas Vorschlag, er solle aus der Geburtstagstorte springen, war als albern verworfen worden. Man wollte einfach als ganz normale Familie Geburtstag feiern, nur eben mit einem zusätzlichen Gast. Für den Abend plante man, sich frühzeitig zurückzuziehen.

        So geschah es auch. Margarethe plauderte charmant und anregend, wobei sich Huberts anfängliche Verlegenheit rasch verlor. Um neun Uhr abends begannen alle zu gähnen, und um halb zehn war Margarethe mit Hubert allein.

        Am übernächsten Tag – man hatte beschlossen, Margarethe einen Tag Ruhe zu gönnen und nicht sofort am nächsten Morgen anzurufen – bekamen Alma und Ata einen Brief, in dem Margarethe sie informierte, daß sie für 14 Tage nach Mallorca gefahren sei, im >>La Residencia<< in Deya wohne und Hubert mitgenommen habe.

        Zwei Wochen später kam sie zurück. Familiären Nachforschungen zufolge sah sie Hubert nie wieder. Auch er machte keinen Versuch, weiteren Kontakt mit der Familie zu halten. Er sei recht nett, aber nicht besonders standfest gewesen, war Margarethes einziger, allerdings etwas mysteriöser Kommentar. Dann wurde über die gesamte Episode nicht mehr gesprochen.

        Kurz darauf schrieb Margarethe folgenden Brief, den die Familie erst nach ihrem Tod erhalten sollte:

        >> Meine Lieben,

        Euch habe ich zu verdanken, daß ich meine Zweifel nicht mit ins Grab nehmen mußte. Nun will ich Euch auch die Euren nehmen. Der Offizier im Foto auf meinem Schreibtisch ist nicht Euer Vater. Er ist ein mir unbekannter Mann, der seine Aufgabe, ein Vaterbild abzugeben, so gut erfüllt hat, daß Alma und Ata stets glaubten, er habe sie wirklich auf dem Arm gehalten. Eurem Vater bin ich nur ein einziges Mal begegnet. Außer ihm – abgesehen von Hubert – keinen anderen Mann gehabt. Jetzt will ich Euch das Wenige erzählen, das ich über ihn weiß. Ich habe Euch nie gesagt, wie sehr ich in meiner Kindheit und Jugend unter meiner Länge gelitten habe. Ich war immer einen Kopf größer als alle anderen. Mein Vater hat sich sehr bemüht, mich über diesen Makel hinwegzutrösten. Er verwöhnte mich sehr und hatte mich am liebsten ständig um sich. Schon als ich ein kleines Mädchen war, begann er, mich auf seine Geschäftreisen mitzunehmen. 1914, fast noch ein Baby, war ich dabei, als Präsident Wilson den Panama – Kanal eröffnete. 1926 begleitete ich meinen Vater nach Köln, wo er am Bau der ersten deutschen Hochhäuser mitgearbeitet hatte. Und im Mai 1935 nahm er mich mit zur Eröffnung der Moskauer Metro. Er war dort als beratender Ingenieur tätig. Für meinen Vater war es ein großes Erlebnis. Er war ein unpolitsicher Mensch, aber es begeisterte ihn sehr, Stalin in diesem Marmorpalast unter der Erde einmal persönlich zu sehen.

        Ich fand alles furchtbar: Die Russen waren noch kleiner als die Deutschen. Da stand ich, ein junges Mädchen vom 23 Jahren, und ragte aus der Menge wie ein Leuchtturm. Plötzlich sah ich 50 Meter entfernt einen Mann, der zu mir herüberstarrte. Er war zwei Köpfe größer als alle anderen. Und darüber hinaus trug er eine Pelzmütze, durch die er noch größer wirkte. Gleichzeitig gingen wir aufeinander zu. Es war leicht, uns nicht aus den Augen zu verlieren. Irgendwann standen wir uns gegenüber, von der Menge dicht zusammengedrängt. Er sprach einige Sätze auf russisch, ich sagte etwas auf deutsch. Wir verstanden unsere Worte nicht, aber wir wussten, daß wir zu ersten Mal im Leben jemandem begegneten, der uns gewachsen war. Ich gab mich ihm auf der Stelle hin. Es war und blieb das überwältigendste Erlebnis meines Lebens. Stalin zerschnitt gerade das Band und eröffnete die U-Bahn. Ich wurde ohnmächtig. Vater glaubte später, es sei die Enge gewesen. Als ich wieder zu mir kam, sah ich wie sich der Russe verzweifelt gegen die stoßende, schubsende Menschenmenge wehrte. Aber er wurde fortgedrängt. Ich hab ihn nie wiedergesehen.

        Ich danke Euch nochmals: Ihr habt Euch viel Mühe gegeben, einen netten jungen Mann für mich zu finden. Aber Hubert kann Euren Vater nicht das Wasser reichen. Ich habe also nichts versäumt. Ich danke Euch besonders, daß jede von Euch Frauen (außer einer) und einer von Euch Männern die Mühe gemacht hat, Hubert persönlich für mich zu testen.

        Margarethe<<

 

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